Übersetzung von Reinhard Rudolph
COVID-19 ist eine neue Krankheit, die durch das Coronavirus verursacht wird. Da die Krankheit für den Menschen neu und hochgradig ansteckend ist, ergreifen Regierungen auf der ganzen Welt Maßnahmen, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Diese Maßnahmen betreffen Millionen von Menschen. Auch viele Menschen mit Autismus und Familien mit einem Kind mit Autismus. Das tägliche Leben, das für Menschen mit Autismus oft schon schwierig genug ist, wird drastisch auf den Kopf gestellt und noch schwieriger gemacht.
Im Folgenden finden Sie einige Tipps, um diese schwierigen Zeiten zu überstehen, wenn Sie selbst autistisch sind oder wenn Sie Eltern eines autistischen Kindes sind.
Informieren Sie über die Krise und drücken Sie den Kontext-Knopf, insbesondere den positiven Kontext
Machen Sie die Unsicherheit und Angst nicht größer als nötig. Die Coronakrise ist von großer Unsicherheit begleitet. Niemand weiß, wie sich die Krankheit und die Zahl der Infektionen entwickeln werden oder wie lange die derzeitigen Maßnahmen dauern werden und ob und welche neuen Maßnahmen dazu kommen werden. Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit stellen für Menschen mit Autismus bereits ohne die Coronakrise eine große Herausforderung dar, und nun kommen viele neue und unbekannte Unsicherheiten hinzu. Wann kann ich (wieder) zur Schule gehen? Werde ich auch krank werden? Wer kann mich in meiner Umgebung anstecken? Werde ich bald arbeitslos sein?
Es ist gut, informiert zu sein, aber stellen Sie sicher, dass die Informationen über die Pandemie die Unsicherheit nicht unnötig erhöhen. Und versuchen Sie, zu viele (negative) Informationen zu vermeiden.
Einige Tipps:
- Vermeiden Sie es, Kinder und Jugendliche mit Autismus mit allen möglichen Informationen über die Pandemie zu überfordern. Den ganzen Tag lang kommen Nachrichten über Radio, Fernsehen, aber auch über soziale Medien herein. Viele dieser Nachrichten sind einseitig negativ (Nachrichtenagenturen berichten jeden Tag über die Zahl der neuen Fälle und Todesfälle, aber nicht immer darüber, wie viele Menschen geheilt wurden). Es kursieren auch viele Falschmeldungen. Wenn möglich, beschränken Sie die Informationen über die Pandemie auf ein oder zwei – vorzugsweise feste – Momente pro Tag. Schauen Sie gemeinsam fern und hören Sie gemeinsam Radio. Und vor allem geben Sie all diesen Nachrichten einen Kontext, damit Kinder und Jugendliche ein differenziertes Bild bekommen und lernen, dass es noch viele Dinge in der Welt gibt, die gut laufen.
- Wenn Sie ein Erwachsener mit Autismus sind: Planen Sie, wann Sie sich informieren wollen, damit Sie nicht ständig mit Informationen konfrontiert werden. Wählen Sie ein oder zwei Zeitpunkte pro Tag aus, an denen Sie sich mit den Nachrichten über die Corona-Krise befassen werden. Schalten Sie Push-Benachrichtigungen auf Ihrem Smartphone aus, damit Sie nicht ständig und zu unvorhersehbaren Zeitpunkten Informationen erhalten, die Sie verarbeiten müssen. Übernehmen Sie die Kontrolle über die Informationen, die zu Ihnen kommen, und bestimmen Sie, wann, wo und wie viele Informationen Sie erhalten möchten.
- Erkundigen Sie sich regelmäßig (z.B. einmal am Tag), welche Fragen Kinder mit Autismus haben und beantworten Sie ihre Fragen, aber liefern Sie nicht mehr Informationen, als sie benötigen.
- Geben Sie den Kindern eine kurze und klare Erklärung über das Coronavirus und COVID-19. Meine gute Freundin Carol Gray hat eine Social StoryTM “Pandemics and the Corona virus” geschrieben.
- Dr. Siobhan Timmins, Ärztin, Mutter eines Sohnes mit Autismus und auch eine Freundin von Carol Gray, hat ebenfalls eine Social StoryTM “Learning about the Corona virus” geschrieben, die Sie bei Kindern mit Autismus verwenden können.
- Verwenden Sie eine neutrale Sprache. Vermeiden Sie so weit wie möglich negativ geladene Begriffe wie gefährlich, tödlich, katastrophal oder schrecklich und ersetzen Sie, wenn möglich, negative Begriffe durch positive. Sprechen Sie zum Beispiel darüber, was Sie tun werden, um gesund zu bleiben, und nicht darüber, was Sie tun werden, um nicht infiziert zu werden. Sagen Sie, welche Art von Aktivitäten noch möglich sind und nicht nur, was nicht mehr erlaubt ist.
- Wägen Sie alle schlechten Nachrichten ab, die uns in diesen Tagen überziehen. Identifizieren Sie jeden Abend 3 Dinge, die an diesem Tag positiv oder gut waren. Beispiele gibt es genug. Die Sonne schien. Die Vögel zwitschern, weil es fast Frühling ist. Die Suppe war lecker. Wenn Sie Kinder (mit Autismus) haben, machen Sie das mit der ganzen Familie. Auch kleine Dinge zählen. Bewusst über die positiven Dinge nachzudenken und sie jeden Tag zu teilen, ist der beste Impfstoff gegen den “Bad News Virus”. Und es ist auch eine Möglichkeit, auf den Kontext-Knopf zu drücken, weil es die unangenehmen Nachrichten in einen größeren Zusammenhang stellt, in dem auch Spaß und positive Dinge vorkommen.
- Wenn Sie sich Sorgen machen, planen Sie die Zeit für Ihre Sorgen ein und planen Sie Ihren Tag so, dass Sie durch Aktivitäten den größten Teil des Tages abgelenkt werden. Es ist auch sinnvoll, “Sorgenzeiten” für Kinder zu reservieren und auch Momente zu planen, in denen Sie sich entspannen und abschalten können (siehe auch die Tipps zur Freizeitgestaltung).
Schützen Sie sich und die anderen
Bringen Sie den Kindern die notwendigen Maßnahmen bei, um eine Ansteckung zu vermeiden: regelmäßiges Händewaschen, Abstand halten, Niesen und Husten in den Ellenbogen.
Gestalten Sie alle Anweisungen autismusfreundlich, indem Sie sie konkret und anschaulich machen.
- Die Weltgesundheitsorganisation hat auf ihrer Website viele Tipps in ziemlich konkreter Sprache und mit viel Bildmaterial. Im Internet finden Sie sicher Anleitungsvideos zum Händewaschen, wie beispielsweise das von John Hopkins Medicine mit der Anleitung der Weltgesundheitsorganisation zum Händewaschen.
- Für Kinder gibt es lustige Lernvideos zum Händewaschen wie “How to wash your hands song” vom NHS. Es gibt auch Videos zum Thema Husten und Niesen.
- Einige Kinder und Jugendliche aus dem Spektrum bevorzugen logische und wissenschaftliche Informationen. Es ist leichter, sie mit wissenschaftlichen Fakten zu überzeugen, neue Verhaltensweisen zu erlernen, als mit emotionalen Argumenten (wie z.B. “Wir machen uns Sorgen um Ihre Gesundheit”). Für diese gibt es dieses Video von Mythbusters, das erzählt, warum wir in den Ellbogen niesen sollten.
- Standardanweisungen können für bestimmte Menschen mit Autismus zu vage, zu abstrakt oder zu verwirrend sein. Versuchen Sie, so konkret wie möglich zu kommunizieren und alle Maßnahmen mit schrittweisen Plänen und visueller Unterstützung klar und konkret zu machen. Die Weltgesundheitsorganisation hat einen visuellen Ablaufplan für das Händewaschen.
- Für einige Kinder und Jugendliche sind diese visuellen Anweisungen immer noch nicht konkret genug. So kann es z.B. notwendig sein, eine konkrete Zeitangabe (bis 20 zählen) oder eine Zeitschaltuhr zu verwenden, die angibt, wie lange die Hände gewaschen werden sollen.
Organisieren Sie den jetzt entstehenden Freizeit-Ozean.
Menschen mit Autismus mögen gut organisierte, strukturierte Aktivitäten. Leere Zeit und zu viel nicht organisierte Freizeit sind für viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Autismus eine Qual.
In vielen Ländern werden derzeit Schulen geschlossen. Die Struktur des Alltags geht für viele Kinder und Jugendliche mit Autismus verloren. Irgendwo hinzugehen (in den Zoo, ins Kino, Museum, Restaurant …) ist ebenfalls nicht mehr möglich. Dadurch entsteht viel Zeit, die nicht ausgefüllt zu werden droht, zumindest nicht auf vorhersehbare und strukturierte Weise. Einigen Jugendlichen mit Autismus macht das nichts aus, denn dann können sie stundenlang spielen oder Netflix gucken. Aber das ist keine so gute Idee. Es besteht nicht nur die Gefahr einer Sucht, sondern auch die Gefahr einer weiteren Verengung der Welt, die durch die Sicherungsmaßnahmen schon jetzt stärker eingeschränkt wird.
Ein paar Tipps:
- Helfen Sie in diesen Zeiten der Ungewissheit, indem Sie so viele tägliche Routinen wie möglich einhalten. Diese Inseln der Vorhersehbarkeit werden heute mehr denn je benötigt.
- Erstellen und verwenden Sie einen Tagesplan für Kinder und Jugendliche mit Autismus. Geben Sie ihnen einen Überblick über das, was passieren wird, und zwar so konkret und visuell wie möglich. Bieten Sie Vorhersehbarkeit, aber lassen Sie Zeit für Variationen. Und, wenn das Kind damit umgehen kann, stellen Sie sicher, dass es Wahlmöglichkeiten gibt. Auf diese Weise sieht das Kind, wann es eine Aktivität wählen darf und wann nicht.
- Fragen Sie die Schule Ihres Sohnes oder Ihrer Tochter, ob es Möglichkeiten gibt, Schulaufgaben online durchzuführen. Bitten Sie die Schule, diese Aufgaben und Aktivitäten anzubieten.
- Wenn Sie auch als Elternteil zu Hause bleiben müssen, beginnen Sie, Ihre Kinder zu unterrichten. Es gibt viel zu lernen, und Lernen kann Spaß machen. Und es muss nicht unbedingt akademischer Stoff sein, den Sie unterrichten. Jetzt ist vielleicht die Zeit, Ihrem Kind beizubringen, wie man Pizza macht, die Wäsche sortiert und etwas zu Hause repariert. Machen Sie etwas, das sofort Ergebnisse bringt und Spaß macht.
- Und vielleicht ist dies auch die Zeit, in der Ihr Sohn oder Ihre Tochter Ihnen etwas beibringen kann, z.B. über Spiele oder soziale Medien. Als Eltern können Sie viel von Ihren Kindern lernen!
- Das Corona-Virus erzeugt eine Menge Angst und Stress. Ein guter Zeitpunkt also, um mit Yoga oder einer anderen Form der Entspannung zu beginnen. Dafür müssen Sie nicht rausgehen. Es gibt viele Apps für Yoga und Entspannung, und auf Youtube finden Sie Hunderte von Videos, um Yoga, Achtsamkeit oder andere Formen der Entspannung zu erlernen.
- Kommen Sie weiterhin aus dem Haus und treiben Sie Sport. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass eine halbe Stunde Bewegung am Tag nicht nur unserer körperlichen Gesundheit, sondern auch unserem geistigen Wohlbefinden gut tut. Wenn wir genügend Abstand voneinander halten (1,5 Meter), ist es daher vollkommen sicher, hinauszugehen. Gehen Sie wandern oder Rad fahren. Organisieren Sie für Ihre Kinder eine Fotosuche, bei der sie anhand von Fotos bestimmte Orte oder Pflanzen finden müssen. Auf diese Weise hat das Wandern oder Radfahren auch einen Zweck und einen klaren Anfang und ein klares Ende. Wenn alle Gegenstände auf den Fotos gefunden sind, kehren wir nach Hause zurück. Autistische Menschen bevorzugen geschlossene Aktivitäten (mit einem klaren und vorhersehbaren Ende) gegenüber offenen Aktivitäten, ohne ein klares Ziel und einen klaren Endpunkt.
- Der beste Weg, glücklich zu werden, ist es, andere glücklich zu machen. Die derzeitigen Maßnahmen führen dazu, dass viele ältere Menschen keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen als ihren Betreuern haben dürfen. Viele von ihnen werden wahrscheinlich einsam werden. Machen Sie mit Ihren Kindern schöne Karten für ältere Menschen und Menschen, die im Krankenhaus sind. Wenn Ihre Kinder nicht gerne malen, lassen Sie sie ein lustiges Video erstellen, das sie über Whatsapp oder Facebook mit den Großeltern teilen können. Oder backen Sie Kekse und übergeben Sie sie dem Altersheim in der Nähe. Oder lassen Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter eine “Wohlfühl” Playlist auf Spotify für Familie, Freunde und Nachbarn erstellen. Geben Sie Kindern und Jugendlichen mit Autismus das Gefühl, dass sie in diesen Krisenzeiten die Welt zu einem besseren Ort machen können und dass sie etwas bewirken können. Und gleichzeitig wird dadurch eine Menge Freizeit ausgefüllt.
- Wenn Sie ein Erwachsener mit Autismus sind, der plötzlich mit viel Freizeit konfrontiert wird, fragen Sie Ihre Familie, Freunde oder über soziale Medien, was Sie tun können, um zu helfen. Sie können beispielsweise einem Opa oder einer Oma Skype oder Whatsapp beibringen, damit sie mit den (Enkel-)Kindern in Kontakt bleiben können. Oder Sie können für Menschen, die unter Quarantäne stehen, Einkäufe machen. Oder wenn Sie jemand sind, der viel über ein bestimmtes Thema weiß oder viele Fakten kennt: Machen Sie ein Quiz. Die Nachfrage nach alternativen Freizeitaktivitäten wird in den kommenden Wochen und Monaten noch zunehmen.
Dies sind schwierige Zeiten für uns alle. Auch für Menschen mit Autismus und ihre Familien. Aber wir sollten niemals eine „gute Krise“ vergeuden. Dies ist eine Gelegenheit für uns alle, kreativer und erfinderischer bei der Unterstützung autistischer Menschen und ihrer Familien zu werden. Unterstützen wir uns gegenseitig und machen wir das Beste daraus.
Eine letzte persönliche Anmerkung:
Dies sind auch schwierige Zeiten für mich und Autism in Context. Alle meine Präsentationen der kommenden Monate sind abgesagt worden. Es ist so schade, dass meine ansteckenden Botschaften über “autistisches Glücklichsein” oder “absolutes Denken in einer relativen Welt” nicht geteilt werden können. Aber ich arbeite intensiv an einer neuen Website und werde versuchen, in den kommenden Wochen einige Webinare und Online-Fragen und Antworten zu organisieren. Bleiben Sie in Kontakt und folgen Sie mir weiterhin auf Twitter (@peter_autisme) und LinkedIn.